So sah mein Tante Ingelore, die Schwester meines Vaters, früher aus.
Meine Tante ist nämlich gelähmt. Sie war 9 Jahre alt, als sie an einer Knochenmarksvereiterung erkrankte, eine damals noch unheilbare Krankheit, da es kein Penicillin gab, jedenfalls nicht im Kriegsdeutschland. Und auch nicht für einen Vater, meinen Großvater, der sich beharrlich weigerte, in die NSDAP einzutreten.
Als man es dann schließlich doch besorgte, heimlich, war die Krankheit so weit fortgeschritten, dass man glaubte, ihr nicht mehr helfen zu können.
Mein Vater erzählte mir, dass Oma und Opa von ihrem letzten Geld eine Puppe kauften, die sich ihre sterbende Tochter so sehr wünschte. Diese Puppe muss es dann gewesen sein, die die letzten Reserven in ihrem geschundenen und von grausamen Operationen entstellten Körper mobilisierten. Entgegen jeder ärztlicher Logik überlebte sie. Allerdings gelähmt.
Es folgten Jahre im Krankenhaus, im Gipsbett liegend, wo man versuchte, das Knochenmark, was ihr rausgeschnitten wurde an Beinen und Armen, wieder zu regenerieren. Langsam konnte sie sich wieder bewegen, allerdings nur sehr eingeschränkt. Dann kam sie in Aachen in ein Krüppelheim, so hieß das damals. Am Ende konnte sie mühsam wieder laufen, allerdings konnte sie nie einen Fuß vor den anderen setzen, abwechselnd, wie man halt geht, denn die Hüfte war steif. Sie schob die Füße hintereinander immer über den Boden, der linke folgte immer dem rechten. Es war mühseelig, aber es ging. Dort hat sie überigends auch nähen gelernt, in dem Heim. Alle Mädchen dort waren ja behindert, einige zum Teil schwerst, und man lehrte sie nähen. Damit sie was „Sinnvolles“ taten. Meine Tante erzählte mir, dass eine Mitschülerin mit dem Mund Pailletten auf Abendkleider nähte. Die reiche Aachener Gesellschaft hat sich dort die Garderobe anfertigen lassen, für wenig Geld, als Zeichen ihrer Großzütigkeit. Aber das ist nun wirklich ein anderes Thema.
Meine Großeltern befürchteten nun immer, ihre Tochter käme alleine nicht zu Recht, zumal finanziell. So wollten sie ein Haus bauen, in dem ihre Tochter Zeit ihres Lebens wohnen kann. Opa und Oma haben sich wahrlich krumm gelegt, mein Vater hat mir erzählt, dass Oma am Mittagstisch oft sagte, ach komisch, ich habe heute gar keinen Hunger. Sie haben alles Geld gespart, um ihrer Tochter eine Bleibe zu sichern.
In dem Haus wohne ich heute. Es ist das schönste Haus auf der ganzen Welt! Hier bin ich groß geworden, hier habe ich mit meinen Großeltern gelebt, hier habe ich die schönsten Jahre meines Lebens verbracht, meine Kinderjahre.
Tante Ingelore gehörte immer dazu. Sie hatte ein Zimmer, das ich wunderschön fand, damals als kleines Mädchen. In der Mitte stand ein Tisch (den ich heute noch habe), an der Wand war ein Regal und darinnen ein Bild von Roy Black!! Sie hatte einen Plattenspieler, auf dem konnte ich meine einzige Schallplatte hören, Rotkäppchen. Dieses Möbel hatte auch einen Fernseher und da durfte ich Fury gucken.
Im Jahr 1982 verstarb mein Opa und Oma und Ingelore wohnten da alleine. Und als dann Oma starb, bin ich in das Haus gezogen und lebte also mit meiner Tante zusammen.
Das war recht lustig zuweilen, denn meine Tante ist eine lebenslustige Frau. Was das Schicksal ihr an Härten aufgebürdet hat, nie hat sie das Lachen verlernt. Und sie hat sich immer sorgsam geschminkt und hübsch gemacht. Sie hatte in der Küche einen Stuhl direkt am Fenster und konnte so am Dorfleben teilhaben. Es gab keinen Menschen hier, der meine Tante nicht kannte.
Das war auch noch mal eine sehr schöne Zeit dort, wir haben es uns wirklich gemütlich gemacht. Allerdings konnte meine Tante keine Veränderungen ertragen, jedenfalls sehr schlecht. Und so musste ich um jedes umzuhängende Bild hart kämpfen.
Mit den Jahren wurde sie dann immer kränker und älter und konnte am Ende leider nicht mehr ohne Pflege dort leben und kam in ein Altenheim. Mein Vater, ihr Bruder, der seinem Vater versprochen hatte, sich um seine Schwester zu kümmern, hat sie dort wirklich täglich besucht. Er ist mit dem Fahrrad hingefahren. Und wenn er nicht da war dann deshalb, weil er in Bahrain war. Sonst war er jeden Tag da.
Als meine Eltern fort ins Wendland zogen, haben sie meine Tante natürlich mitgenommen, dort ist im selben Ort ein Altenheim. Auch da ist mein Vater täglich. Meine Tante wird aber immer weniger, sie kann nicht mehr telefonieren, sie versteht gar nicht mehr, was der Hörer ist und manchmal versucht sie mit der Fernbedienung zu wählen.
Ich sehe sie nur noch sehr selten, es sind immerhin 450 km bis dort oben und all zu oft kann ich mir das nicht erlauben. Im August fahre ich aber wieder hin. Dann kommt auch meine Schwester aus Bahrain und wir sehen uns alle wieder.